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Fluchtgeschichte von Kim Ngân


Liebe Frau Neudeck, liebe Christel,
sehr geehrte Damen und Herren,
werte Besucher aus nah und fern,

gestatten Sie mir, dass ich heute bei Ihnen sprechen darf und mich auch gleich dafür bedanke.

Heute feiern wir den 40.Geburtstag der Cap Anamur und den 80.Geburtstag unseres Retters, Unterstützers, Förderers und unseres großen Vorbildes, Dr. Rupert Neudeck.

Mein Name ist Kim Ngân, der bedeutet Reichtum oder Vermögen. Meine Eltern haben mir nicht den materiellen, sondern den geistigen Reichtum in die Wiege gelegt. Liebe Eltern, ich danke Euch dafür, dass ich diesen Namen tragen darf. Ich möchte mein Leben im Sinne meines Namens bis zu meinem letzten Herzschlag führen.

Als ich Ende Juni 1981 von der Cap Anamur gerettet wurde, war ich gerade zehn Tage alt. Wir hatten Glück, denn wir wurden von der Cap Anamur gerettet und kamen nach Mönchengladbach, in Nordrhein-Westfalen.

Erlauben Sie mir, dass ich Ihnen nun meine Fluchtgeschichte erzähle:

Lange Zeit habe ich mich mit der Frage beschäftigt, warum? Und warum? Ich war nur zehn Tage alt und meine Eltern hatten mich auf der Flucht mitgenommen. Was war die Motivation für meine Eltern, die geliebte Heimat auf diese gefährliche Weise zu verlassen? Die Chance zu überleben betrug nur 10 %. Trotzdem haben sie es gewagt. Warum?

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Meine Eltern hatten schon einen erfolglosen Fluchtversuch überstanden. Ich war gerade vier Monate im Mutterleib, als meine Eltern sich in ein Boot setzten, das nur 10,50 Meter lang und 2,50m breit war. Mit 57 Personen in diesem Boot, richtiger gesagt in dieser Nussschale, war es schon sehr eng. Nach 19 Stunden Fahrt war das Boot immer noch im Hoheitsgebiet Vietnams. Es drohte den Passagieren das Aus. Inmitten des Taifuns schwamm das Fluchtboot in den unendlichen Weiten des Meeres – vergleichbar mit einem betrunkenen Mann, der auf dem Gehweg entlang taumelt und dabei noch Seilsprünge absolviert. Die hohen Wellen schlugen wie Hammerschläge aufs Boot und füllte das manövrierunfähige Boot mit Wasser. Die Angst war verbreitet, die Gefahr, dass das Boot bald sinken würde, war sehr groß. Viele Menschen schrien um Hilfe, obwohl niemand anwesend war, um ihnen zu helfen. Die Angst und dasGeschreie zwangen den Bootsführer zur Umkehr. Er war ohnehin gar nicht mehr in der Lage, das vorm Untergang bedrohte Boot zu steuern. Das Glück stand Gott sei Dank an der Seite der Flüchtlinge. Um 6:00 Uhr des nächsten Tages kam das Boot zu dem Ausgangspunkt zurück. Alle Fluchtwilligen rannten blitzschnell weg, bevor die Küstenpolizei sie hätte erwischen können. Man war dennoch froh, unversehrt wieder daheim zu sein.

Mein Vater musste sich danach vor der Polizei verstecken. Meine Mutter und die drei Brüder von mir kamen zurück ins Haus, das noch nicht beschlagnahmt worden war. Alle warteten ein paar Wochen ab, bis sich die angespannte Lage nach einem gescheiterten Versuch beruhigte.

Alle Familienmitglieder versuchtenalles, was nicht hieb- und stichfest war, zu verkaufen, um das Geld für ein neues Fluchtboot zusammenzukratzen. Die ganze Familie wartete auf die Ankunft eines neuen Erdenmenschen, Kim Ngân. Am 13. Juni 1981 erblickte ich das Licht der Welt, mit 2,8 kg Lebensgewicht. Nach einer geheimen Taufe – die Taufe war im kommunistischen Vietnam zwar nicht offiziell verboten, aber getaufte Kinder waren Staatsfeinde, heute immer noch –beschlossen meine Elternerneut den Tod zu wagen, um uns vor der Sklaverei zu bewahren.

In der Nacht des Fluchttages nahm meine Mutter, trotz ihrer körperlichen Schwäche nach der Geburt, meine drei Brüder im Alter von zwei, vier und sechs Jahren mit auf die Flucht. Ich wurde von einer Tante getragen, während ein Onkel uns zu dem Weg zur Flucht führte, der nach 3 km am Ankerplatz unseres Fluchtbootes endete. Meine Mutter und die Tante fielen in einen Sumpf. Wir wurden in Salzwasser getränkt. Wir stiegen danach in das Fluchtboot ein. Bei Ebbe stachen wir ins Meer. Diesmal hatten wir ein größeres Boot. Es war 12,50 Meter, genau 2,50 breit und 1,2 Meter groß (hoch). Es waren 101 hoffnungsvolle Passagiere an Bord, die meisten waren Kinder. Wir irrten sechs Tage und fünf Nächte auf dem Meer wie ein kleines Gummiboot umher, ohne Kompass, ohne Orientierung, ohne Ziel.

Bereits einen Tag nach dem Ausbruch wurden viele krank, manche mussten sich schon übergeben. Genau wie beim ersten Fluchtversuch schlugen die Wellen mit bedrohlicher Stärke aufs Boot, überspülten es mit Meereswasser. Das Boot, eigentlich auch eine große Nussschale, mit 101 Menschen an Bord, drohte zu sinken. Ich verschluckte unfreiwillig das Salzwasser, das sich dann auf meiner Haut bemerkbar machte. Meine Mutter, körperlich geschwächt, konnte mich nicht mehr stillen. Ich weinte, ich schrie vor Schmerzen. Ein Säugling weiß nichts von der großen Politik aber er schreit, wenn er Hunger hat. Er kann nicht artikulieren, außer schreien. Genauso ging es mir.

In der hoffnungslosen Lage begannen die Flüchtlinge zu beten. Möge Maria Mutter Gottes ihnen den Weg ans Ufer der Freiheit mit ihrem Licht der Hoffnung leuchten!

Dennoch war die Enttäuschung sehr groß. Viele große Handelsschiffe fuhren an diesem kleinen Boot vorbei aber niemand wollte das kleine Boot gesehen haben, als wären die Menschen an Bord nichts, nichts als Luft! Später, viel später, Jahre später erfuhren die Flüchtlinge, dass niemand bereit war die menschliche Last auf sich zu nehmen, denn kaum ein Land war bereit, sie an Land gehen zu lassen. Das Leben der 101 Passagiere schien besiegelt zu sein, am sechsten Tag der Flucht. Die Enttäuschung wurde zu einer großen Verzweiflung. Ohne Wasser und Lebensmittel wurden fast alle krank und lagen überall, auf dem Unterdeck, auf dem Oberdeck, auf den Gängen, herum. Das Boot trieb sinnlos im Meer wie ein toter Stammbaum im Strom. Dennoch beschlossen der Bootsführer und die Organisatoren nicht zurückzukehren. Sie hätten ohnehin nicht gewusst wie man zurückkehrt. Die Situation war sehr kritisch. Meine Haut fiel ab von meinem Körper. Ich konnte nur noch ganz schwach atmen und war da nur noch einen Schritt vom Tod entfernt.

Offenbar hat der liebe Gott unser Gebet erhört, denn es tauchte plötzlich die Cap Anamur auf, deren Besatzung uns mit Sicherheit schon durch ihre Ferngläser gesehen hatte, aber es dauerte eine Weile, bis man sich uns näherte.

Gegen 17:00 Uhr des sechsten Fluchttages konnten wir gerettet werden. Ich wurde im Behandlungszimmer der Cap Anamur von den Ärzten behandelt. Die Ärzte sagten, wenn es nur einen Tag länger gedauert hätte, wäre ich schon gestorben. Zur gleichen Zeit, während der Rettungsaktion, sank das kleine Boot in die Tiefe des Meeres und die Cap Anamur wurde von einem Taifun geschüttelt. Alle wussten, sie wurden buchstäblich in der letzten Minute gerettet.

Wir wurden nach Palawan, einer Stadt auf den Philippinen, gebracht. Meine Eltern erzählten auch, dass Herr Dr. Rupert Neudeck und der Kapitän der Cap Anamur sowie einige Helfer das Lager besuchten, als ich drei Monate alt wurde.

Nach einem Jahr wurden wir von Deutschland aufgenommen und nach Mönchengladbach in Nordrhein-Westfalen gebracht. Die Stadt wurde unser neues Heim, Deutschland wurde unsere zweite Heimat.

Mein Leben bekam danach einen gewöhnlichen Werdegang: Kindergarten, Schule, Universität, Diplomabschluss in der Wirtschaftswissenschaft, ein Job, dann Familiengründung und ein Sohn im Alter von drei Jahren. Ich lebe heute glücklich mit meiner Familie in Deutschland.

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Nach 38 Jahren in Deutschland erfuhr ich immer wieder von meinen Eltern, dass sie damals entschlossen waren, die Flucht aus Vietnam so lange zu wiederholen, bis sie entweder ankamen oder auf hoher See umgekommen wären. Das dachten damals auch Millionen Menschen in Südvietnam. Die Freiheit war für sie wertvoller als das eigene Leben.

Meine Eltern erzählten mir auch die Geschichte Vietnams. Unser Land wurde 1954 geteilt, gemäß dem Genfer Abkommen vom 20.07.1954. Nördlich des 17. Breitengrads entstand Nordvietnam, das unter der Diktatur der Kommunisten stand. Der Süden wurde ein freies Land. Das Abkommen erlaubte den Bewohnern jedes Landesteils innerhalb von zwei Monaten in den anderen Landesteil umzusiedeln. Mindestens eine Million Menschen aus dem Norden folgten dem Ruf der Freiheit und gingen nach Südvietnam. Im Jahr 1954 waren meine Eltern gerade fünf bzw. sechs Jahre alt. Sie nahmen Hab und Gut mit und stiegen in ein Landungsboot um nach Südvietnam zu kommen. In 21 Jahren der Trennung gab es für unsere Familie keine Nachricht vom Rest der Familie aus Nordvietnam, denn der Kontakt war verboten. Deutschland war auch getrennt in Ost und West und wurde 1990 friedlich wiedervereinigt. Dieses Glück hatten wir Vietnamesen nicht.

Südvietnam, unsere Heimat, kam am 30. April 1975 unter die Panzerketten der blutrünstigen Nordvietnamesen und wurde der kommunistischen Diktatur unterworfen. Das Volk in Südvietnam lehnte diese Unterwerfung ab. Mehr als zwei Millionen Südvietnamesen versuchten über die gefährliche Flucht über See ans Ufer der Freiheit zu gelangen. Dabei gingen sie – von UNHCR als Boatpeople genannt – jedes Risiko ein: den Tod durch Verhungern und Verdursten unter der sengenden Sonne, von gefürchteten Piraten entführt und getötet werden, von Taifunen versenkt zu werden. Die Frauen hätten Opfer der Massenvergewaltigungen durch Piraten werden können. Der Pazifik, der seinen Namen zu Unrecht trägt, wurde zum größten Massengrab der Welt, mit geschätzten 500.000 namenslosen Gräbern auf dem Meeresboden. Ich brauchte Jahre, um meine Eltern zu verstehen. Wenn das Schicksal es gewollt hätte, wären wir alle gestorben, aber niemand von uns hätte unter der kommunistischen Gewaltherrschaft leben müssen. Aber Gott hat unser Gebet erhört und schickte die Cap Anamur zu uns. Das Schiff der Nächstenliebe hat uns gerettet. An dieser Stelle verbeuge ich mich posthum vor unserem Retter, Dr. Robert Neudeck. Ohne ihn wäre der maritime Friedhof im Pazifik um mindesten 11300 Gräber größer geworden. Ich verbeuge mich vor allen Menschen, die auf der Cap Anamur gearbeitet haben, ohne sie wäre ich heute nicht hier. Ich verbeuge mich vor zigtausenden Menschen in Deutschland, die uns Jahre, Jahrzehnte, auf unserem Lebensweg begleitet haben, ohne sie wären wir nicht da, wo wir heute sind.

Ich weine um meine Landsleute, die in Vietnam eine der schlimmsten Diktaturen der Welt ertragen müssen. Gott möge die Kette der Gewalt in Vietnam zerreißen!

Wir gedenken heute unserer Landsleute, die beim Ausbruch in die Freiheit ihr Leben verloren haben, weil sie kein Glück hatten.

Wir stehen heute vor dem Denkmal für Robert Neudeck. Wir hätten uns gefreut, wenn er heute, mit 80 Jahren, bei uns wäre. Aber wir sind getröstet zu wissen, dass er vom Himmel auf uns schaut, um seine Freude mit uns zu teilen, dass wird ihn nie vergessen werden.

Liebe Frau Christel Neudeck, nehmen Sie unseren herzlichen Dank an! Wir wissen, hinter einem starken Mann steht immer eine starke Frau. Ohne Sie, liebe Christel, hätten die humanitären Aktionen der Cap Anamur auch nicht funktioniert. Wir wünschen Ihnen und Ihrer Familie alles Gute, Gesundheit und Gottes Segen für Ihre weiteren Lebenswege.

Liebe Christel, bitte nehmen Sie mein kleines Geschenk an, einen Blumenstrauß, als den sichtbaren Ausdruck meines Dankes an Sie. In unserem Herzen werden wir Sie und Dr. Rupert Neudeck immer bleiben.

Vielen Dank, verehrte Damen und Herren, wir danken Ihnen für die großartigen Heldentaten bei der Aktion, Menschen in höchste Not zu retten und für Ihre heutige Geduld.

Gott segnet Sie!


Kim Ngân liest ihre Fluchtgeschichte vor (ab der 47. Minute).