Das Leben ist kurz - giac hoang luong

Es war Abend. Ein junger Mann kam in eine Herberge hinein, die Kleidung durchnässt und aufgelöst. Er bestellte eine Hirse-Suppe. 


Ein taoistischer Meister saß am Nebentisch. Er stand auf und setzte sich zu dem jungen Mann. Der Meister fragte den Jungen, was ihn so traurig machte. Mit ganz müder Stimme antwortete der junge Mann:
"Ich habe zum dritten Mal meine Prüfung zur Verwaltungslaufbahn nicht bestanden. Mein Leben ist eine Anhäufung von Misserfolgen. Als junger Mann bin ich verpflichtet, etwas im Leben zu vollbringen. Ich bin weder bekannt noch reich. Ich bin ein Nichts." 


Der Meister hörte sich alles an und sagte ganz sanft: "Der Weg ist lang, ruhen Sie sich ein bisschen aus, bevor Sie etwas essen." Beim vierten Mal bestand Lu - so hieß der junge Mann - die Aufnahmeprüfung zur Verwaltungslaufbahn mit Auszeichnung. Er wurde hoher Mandarin nach nur einigen Jahren. Er wurde Gouverneur der Provinz Nam Kha, dann Berater des Königs.

Voll Bewunderung für Lus Fähigkeiten gab ihm der König eine seiner Töchter zur Gemahlin. So erreichte Lu alles, was ein normaler Sterblicher in der Gesellschaft erreichen konnte.
Ein Krieg brach aus. Lu wurde zum Oberbefehlshaber der gesamten Armeen des Landes. Er führte sie von Sieg zu Sieg. Da er weit von der Hauptstadt entfernt weilte, nutzten einige der Hofbeamten die Gelegenheit, ihn beim König zu verleumden. Der König glaubte ihnen schließlich. 


Lu fiel in Ungnade und musste alle seine Ämter abgeben. Nicht nur er litt darunter, sondern auch seine gesamte Verwandtschaft: Geschwister und ihre Familien, Onkel und Tante nebst Angehörigen, selbst Bewohner seines Heimatortes. Er lebte zehn lange Jahre in Elend. Alle mieden ihn und seine Verwandten. 

Der König bedauerte eines Tages seine Entscheidung und rief ihn zurück. Lu wurde erster Minister. Als der König starb, verhaftete sein Nachfolger Lu. Lu lag nun im Sterben in einem Kerker. Ganz langsam siechte sein Leben dahin. Gedanken ließen ihn nicht los.
War DAS das menschliche Leben? Warum hatte er den Eindruck, dass er versagt hatte, obwohl er alles erreicht, allerdings auch wieder verloren hatte? Sind Menschen verdammt, so zu sterben wie ein Hund? fragte sich Lu voll Bitterkeit. In dem Moment öffnete Lu die Augen. Er wachte auf. Der Meister saß vor ihm und lächelte ihn an, voll Mitgefühl. Die Hirsesuppe, die er bestellt hatte, war noch nicht serviert.

Es ist so:
1. Das Leben ist vergänglich.
2. Das Streben nach materiellen Dingen ist belanglos.



Bilder von Juliane K.