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Geschichte einer Flüchtlingsfamilie

Das ist die Geschichte einer Flüchtlingsfamilie.
Eine Geschichte über den Schmerz, den Verlust, die Angst, die Schuld. Und vor allem die Geschichte über die bedingungslose Liebe eines Vaters, der sich in Worten nicht ausdrücken konnte. Umso besser konnte er es in Bildern. Bilder sagen mehr als tausend Worte. Ich bin mal so frei und benenne das anhängende Bild “Durch die Augen eines Vaters”, da der ursprüngliche Künstler nicht mehr unter uns weilt und es nicht mehr kann.

Dies ist die Geschichte MEINER Flüchtlingsfamilie.
Nachdem die kommunistische Macht in Vietnam gesiegt hatte, nachdem mein Vater als Soldat für sein Land gekämpft hatte, musste er feststellen, dass das politische Bild seines geliebten Heimatlandes nicht mehr mit seinen eigenen Ansichten übereinstimmte. Aus diesem Grund entschloss er sich dieses Land zu verlassen. Aus Angst wegen seiner politischen Einstellung, aber überwiegend aus Angst um seine Familie. Da jeder Flüchtige in Vietnam sich strafbar machte und man eingesperrt oder getötet wurde, kann man sich vorstellen, wie schwer es war eine Flucht zu organisieren.

Meine Eltern hatten damals fünf Kinder. Mein ältester Bruder Hoang (damals elf Jahre alt), meine Schwester Thu Ha (9), mein anderer Bruder Cuong (7), eine weitere Schwester Lan (4) und die jüngste Schwester Linh (drei Monate). Meine Schwester Lan liebte mein Vater ganz besonders, weil sie ihm wohl am ähnlichsten war. Mein Vater beschloss unsere Familie aufzuteilen, da eine so große Familie sehr viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde. Er beschloss mit meinem ältesten Bruder und meinem Cousin als erstes zu fliehen. Wie wohl alle damals, träumte er von einer besseren Zukunft, einem besseren Leben.

Bevor sie aufbrachen, fragte er Lan, was sie sich wünschen würde, würden sie eines Tages in Deutschland leben. Sie antwortete: „Ich würde gerne in einem Haus leben mit einem Treppenhaus!”. Er nahm diesen Wunsch mit einem stillschweigenden Lächeln auf und sah ihn als ein Versprechen gegenüber seiner Tochter an. Damals wusste er noch nicht, dass er diesen Wunsch zwar erfüllen werden würde, sie selbst aber dieses Haus nicht mehr sehen würde.

Geschichte einer Fluechtlingsfamilie

Als er 1979 floh, wurden er und die Mitflüchtenden auf offenem Meer von einem Hamburger Öltanker aufgegriffen und nach Singapur gebracht. Dort erreichte sie die Nachricht, dass Deutschland vietnamesische Flüchtlinge aufnehmen würde und sie flogen direkt nach Deutschland.

Meine Mutter blieb in Vietnam und versuchte etliche Male mit ihren übriggebliebenen Kindern zu fliehen und wurde von kommunistischen Soldaten erwischt. Jeder Fluchtversuch kostete ein Vermögen. Die Flucht gelang erst zwei Jahre später.

Als ihnen 1981 die Flucht endlich gelang, dachte jeder, dass die Familie sich in Deutschland wiedersehen würde. Doch auf offenem Meer – man war noch nicht weit von Vietnam entfernt – wurden die Flüchtlinge von thailändischen Piraten ausgeraubt. Frauen wurden vergewaltigt, bestohlen, getötet. Die Seeräuber warfen alle 70 Flüchtlinge ins offene Meer. Kinder bekamen Schwimmwesten, welche von den meisten Erwachsenen aus Panik entrissen wurden, um ihr eigenes Leben zu retten.

Dreizehn Menschen verloren in dieser schicksalshaften Nacht ihr Leben. Darunter waren mein Bruder (zu der Zeit der Flucht neun Jahre alt), meine Schwester Lan (6) und meine jüngste Schwester (1 1/2). Meine Mutter, meine Schwester Thu Ha (11) und meine Cousine, die mit ihnen geflohen war, überlebten wie durch ein Wunder. Sie wurden an eine thailändische Insel gespült und in ein Flüchtlingslager gebracht. Von dort aus durfte jeder ein Telegramm an seine Angehörigen schicken. Meine Mutter schrieb an meinen Vater mit den Worten: “Hätte ich das vorher gewusst, wäre ich lieber in Vietnam gestorben, als zu fliehen und unsere drei Kinder zu verlieren”. Als die Nachricht meinen Vater erreichte, wurde er krank, er kam ins Krankenhaus und fiel in tiefe Depressionen.

Aus dem tiefsten Verlust, dem unaussprechlichen Schmerz, entstand dieses Bild meiner Schwester Lan. Er malte sie nach dem einzigen Foto, das er von ihr noch besaß, in den Anziehsachen, die er selbst für sie gekauft hatte, in dem Haus, welches er ihr versprochen hatte. Nachdenklich sagte er damals zu meiner Mutter: “Jetzt haben wir dieses Haus. Das Einzige, was fehlt, ist sie.”

Diese wahre Geschichte habe ich mein Leben lang erzählt bekommen. Aber ich habe die Botschaft dahinter nie verstanden, erst an dem heutigen Tage, während ich diese Zeilen schreibe. Ich weiß, diese Geschichte ist ein sehr persönlicher Text, aber er ist so enorm wichtig für mich und vielleicht auch für andere Menschen.

Ich erinnere mich noch an die Zeit vor ein paar Jahren, als das Bild des kleinen Flüchtlingsjungen durch alle Medien ging, der tot am Strand aufgefunden worden war. Dieses Bild berührte die Menschen weltweit tief. Auch mich, weil ich wusste, dass meine Familie genau dasselbe durchmachte.

Vielleicht bringt meine Familiengeschichte den einen oder anderen zum Nachdenken. Darüber, dass Menschen, die ihre Heimat verlassen, es zwar freiwillig tun, aber es niemals der einfachste Weg, die einfachste Entscheidung, ist. Meine Familie nahm dieses Risiko in Kauf und verlor wohl das Wertvollste in ihrem Leben. Meine Eltern sind für mich die stärksten Menschen auf dieser Welt.

Und zum anderen wollte ich der Welt das Bild meines Vaters zeigen. Was wiederum das Wertvollste für mich ist, was ich von ihm noch besitze. Diese Zeichnung steht sinnbildlich für die bedingungslose Liebe eines Vaters, die über den Tod hinaus geht. Eine Liebe, die selbst der schlimmste Tod niemals entzweien kann. Man erkennt den tiefsitzenden Schmerz, die stundenlange Arbeit, die dahinter steckte, um seine Tochter so perfekt wie es nur ging zu zeichnen. Perfekt nicht im Sinne von fehlerlos (auf dem Originalbild hat sie ein Loch in der Sandale, auf der Zeichnung ist genau da ein Loch), sondern vielmehr so wie er sie in Erinnerung hatte. Ich vermisse ihn jeden Tag, aber was mich tröstet ist der Gedanke, dass er jetzt bei ihr ist.

„In the arms of the angels, may you find some comfort here.”